Zero Outage oder Mut zu Fehlern?
Es gibt sie immer öfter: die Fuck-up Nights, in denen Geschäftsführende und Selbstständige öffentlich über misslungene Projekte sprechen. Sie sollen helfen, Denkblockaden für neue Produkte aufzubrechen und aus Fehlern zu lernen. Scheitern soll kein Tabu mehr sein, es birgt ja immer auch Chancen und Neuanfang. Das ist sympathisch, das macht Mut. Aber mal ganz ehrlich: Diese Lust am Scheitern und der öffentlich geforderte Mut zu Fehlern finden sich zumeist nur in der Start-up-Szene. In vielen etablierten Unternehmen gelten andere Maximen, die Fehler verdammen, Angst erzeugen und Innovationen erschweren.
„Zero Outage“ nennt sich das Prinzip, mit dem die Telekom-Tochter T-Systems ihre Null-Fehler-Strategie beschreibt. Das Ziel: möglichst wenig Ausfallzeiten für höchstmögliche Geschäftsfähigkeit. „Unternehmen, die es verabsäumen, eine nachhaltig ausfallsichere ICT aufzubauen, drohen massive Probleme“ schreibt T-Systems in einem Strategiepapier – und da möchte wohl keiner widersprechen. Niemand möchte sich ausmalen, eine Woche ohne Server, einen Tag ohne E-Mails oder auch nur ein paar Stunden ohne Handy zu sein. Die IT-Infrastruktur muss funktionieren. Die Kunden wollen sich darauf verlassen können. Ganz klar. „Wir haben hier eine Null-Fehler-Toleranz“, sagen heute noch immer viele Führungskräfte im Brustton der Überzeugung. Dahinter stehen zumeist tief verinnerlichte Glaubenssätze des Six-Sigma-Denkens und des Qualitätsmanagements.
Null-Fehler-Dogma kann auch zerstörerisch sein
„Schade, dass Sie keine Fehler machen“, könnte oder möchte man diesen Menschen entgegnen. Dieses Null-Fehler-Dogma, das falsche Entscheidungen und falsche Handlungen verteufelt, hemmt Innovationen und kann zerstörerisch sein, wenn es zu Angst und Verdrängungsmechanismen führt. Oft steckt hinter dem Festhalten an der Null-Fehler-Konzeption ein falsches Verständnis von den Wünschen der Kunden und den Zielen der Mitarbeitenden. Eins ist unbestritten: In kritischen Bereichen können Fehler tödlich sein. Und in unkritischeren Bereichen ärgert sich der Kunde zu Recht, wenn eine Bestellung nicht bearbeitet wird, eine Lieferung zu spät kommt oder das Essen nicht schmeckt. Aber Achtung: Kein Kunde wünscht sich Fehlerfreiheit. Ein Kunde wünscht sich Problemlösungen. Niemand erwartet, dass alles perfekt funktioniert und Unvorhersehbarkeiten, Unwägbarkeiten und – ja, auch das – die Tagesform keine Rolle mehr spielen. Was Kunden erwarten dürfen, ist eine Klarheit und Stringenz der Prozesse und Strukturen, die sicherstellen, dass auch dann alles nach Plan läuft, wenn Fehler passieren. Oder dass es zumindest einen Plan B gibt.
Neues entwickeln verträgt sich nicht mit Null-Fehler-Toleranz
Aber wie sieht es mit den Menschen aus, die in einem Unternehmen arbeiten? Müssen die auch funktionieren? Oder dürfen sie mal danebenliegen, einen schlechten Tag haben, sich irren oder überschätzen? Sie wollen nicht arbeiten, um keine Fehler zu machen. Sie wollen möglichst viel richtig machen – für das Unternehmen, für die Kunden und für sich selbst. Um das zu erreichen, wollen und müssen sie die sprichwörtliche Extra-Meile gehen, Neues ausprobieren und kalkulierte Risiken eingehen. All das verträgt sich nicht mit Null-Fehler-Toleranz. „Scheitere häufig und scheitere früh“ lehrt uns das Design Thinking: Späte Fehler sind teuer, weil sie tiefer in Prozessen und Strukturen verankert sind. Also besser mehr ausprobieren, lustvoll scheitern und daraus lernen. Es ist paradox: Design Thinking, das so etwas wie die Philosophie und der gemeinsame Nenner vieler Start-up-Manager, Gründer und Digitalisierungs-Apologeten ist, schwört uns darauf ein, Fehler zuzulassen. Gleichzeitig kommt gerade aus der IT-Welt die Steigerung des Null-Fehler-Denkens. T-Systems beschreibt die Zero-Outage-Philosophie als „Voraussetzung für digitale Transformation“.
Beides hat seinen Platz: nebeneinander
Beide Seiten haben recht. Eine zuverlässige Informations- und Telekommunikationstechnik (ICT) bildet die Grundlage für erfolgreiche digitale Transformation. Wenn es um Technik und Prozesse geht, muss Zero Outage das Ziel sein. Aber dieses Bestreben darf uns nicht in den Glauben des 20. Jahrhunderts zurückfallen lassen. Damals dachte man, Fehler und Pannen durch striktes Management vermeiden zu können und zu müssen. Das wäre in der Tat ein Fehler. Menschen machen Fehler, und Fehler machen uns menschlich. Und genau diese Eigenschaften sind in Zeiten der Digitalisierung, in der mehr und mehr Handlungen von Maschinen und Algorithmen übernehmen werden, so wichtig und wertvoll. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich der vermeintliche Widerspruch der Digitalisierung, also das Streben nach Null-Fehler-Toleranz auf der einen Seite und das Eintreten für Menschlichkeit und Nicht-Perfektion auf der anderen, als ein altbekanntes Dilemma, das der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog bereits in den 1990er-Jahren treffend beschrieben hat: „Ohne Wirtschaftlichkeit schaffen wir’s auf dem Arbeitsmarkt nicht. Aber ich füge hinzu: Ohne Menschlichkeit ertragen wir es nicht!“