Leadership Magazin
Der Hernsteiner 2/2021 widmet sich dem Thema "Unternehmenskultur". Was ist der Sinn des Sinns? Und warum steht er bei manchen Pyramiden ganz oben? Was lässt Hochzeiten im Himmel scheitern? Und wie geht Unkultur?
Kann eine Gruppe funktionieren, die ohne Anführerinnen und Anführer, ohne Hierarchie auskommt? – Ja, kann sie, wie die Anthropologin Bettina Ludwig anhand der Jäger und Sammler, die in der Kalahari leben, erklärt. Kommunikation ist dabei das Um und Auf: Entscheidungen werden gemeinschaftlich getroffen und so lange diskutiert, bis ein Konsens herbeigeführt wird. Mehr spannende Einblicke in die Welt der Nomaden und was Führungskräfte von ihr lernen können, lesen Sie im Interview.
Sie leben in den Wäldern Thailands und des Amazonas oder in der Savanne des südlichen Afrika: Weltweit gibt es vielleicht noch eine Handvoll Jäger- und Sammlergesellschaften. Also Menschen, die nomadisch leben und ihren Lebensunterhalt bestreiten, indem sie Tiere jagen und Pflanzen sammeln. Schätzungen zufolge werden in 15 Jahren auch diese wenigen Gruppen verschwunden sein. Die Anthropologin Bettina Ludwig hat im Rahmen eines Forschungsprojekts mehrmals die Gruppe der San in der Kalahari besucht – und eine für sie neue Form des Zusammenlebens kennengelernt.
Frau Ludwig, können wir von heutigen Jäger- und Sammlergesellschaften etwas über die Lebensweise unserer Vorfahren lernen?
Bettina Ludwig: Die Menschen haben die längste Zeit ihrer Geschichte als Jäger und Sammler gelebt, bis sie vor circa 20.000 Jahren sesshaft wurden. Die heutigen Jäger- und Sammlergesellschaften sind zum Teil eine Touristenattraktion geworden, insofern ist es kein unverfälschter Blick in die Vergangenheit. Diese Menschen sind keine Relikte aus der Vergangenheit, sondern Individuen des 21. Jahrhunderts. Aber gewisse Formen der sozialen, politischen und ökonomischen Organisation haben sich bis in die Gegenwart bewahrt. In der Kalahari-Savanne in Namibia leben insgesamt noch rund 2.400 Personen als Jäger und Sammler. Ich selbst habe mit einer Gruppe von 65 Menschen geforscht. Diese leben 24/7 outdoor, haben also kein Dach über dem Kopf.
Was zeichnet ihre Form des Zusammenlebens aus?
Die Gesellschaft ist egalitär, es gibt keine Hierarchie und keinen Anführer. Alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Es gibt keinen Besitz – wenn ich ein Messer brauche, dann verwende ich es. Wenn ich es nicht mehr brauche, lege ich es weg und der Nächste nutzt es. Auch die Sprache ist besonders: Sie hat keine Formen für die Vergangenheit oder die Zukunft. Man lebt also sehr stark im Hier und Jetzt. Zahlen gibt es nur bis 5 – dann redet man von "viele".
Wie trifft die Gruppe Entscheidungen, wenn es keinen Anführer gibt?
Gemeinschaftlich. Wenn eine Entscheidung ansteht, setzen sich die Personen der Gruppe zusammen und reden darüber. Jeder sagt seine Meinung, wirft Gedanken ein – und irgendwann bemerkt man, dass sich die Aussagen angleichen. Plötzlich sagt jeder dasselbe, dann wiederholt es jeder noch einmal und damit hat die Gruppe entschieden. Es ist jedenfalls ein No-Go, dass sich einer hinstellt und einfach ein Machtwort spricht. Die Voraussetzung ist, dass viel miteinander geredet wird. Aber man lebt ja ständig
miteinander. Es gibt nicht einmal Wörter für "Hallo" oder "Tschüss", weil man sich fast nie trennt.
Was haben Sie für sich persönlich in der Kalahari gelernt?
Ich war mit Menschen konfrontiert, die die Welt ganz anders sehen und ihren Alltag ganz anders bestreiten, als ich es gewohnt war. Das hat mein Menschen- und Weltbild erschüttert. Ich habe gelernt, dass meine Sicht der Dinge nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Vor allem hat mir diese Erfahrung gezeigt, dass der Mensch in sehr unterschiedlichen Situationen zurechtkommen kann. Dadurch blicke ich optimistischer in die Zukunft: Was auch kommen mag, ich glaube daran, dass der Mensch sich anpassen kann.
Was können Führungskräfte von Jägern und Sammlern lernen?
Wer Menschen führen will, muss verstehen, wie sie funktionieren. In der Kalahari lernt man: Es gibt keine Natur des Menschen. Wir sind nicht von Natur aus auf Besitztum oder hierarchische Strukturen gepolt. Diese Einsicht hilft dabei, Perspektiven aufzubrechen. Und das schafft die Möglichkeit, neue Wege zu gehen. Gruppen können auch ohne Hierarchie, ohne Anführer funktionieren. Unter Jägern und Sammlern gibt es auch die Idee des Wettbewerbs nicht. Wenn Kinder miteinander spielen, gibt es keine Sieger oder Verlierer. Und die Sprache kennt keinen Komparativ, kein "größer" oder "besser".
Können Sie sich auch etwas konkretere Anleihen – etwa für Entscheidungsprozesse – nehmen?
Ich stelle es mir schwierig vor, wirklich alles gemeinschaftlich zu entscheiden. Denn das dauert sehr lange. Der Zugang zum Thema Zeit ist bei Jägern und Sammlern ganz anders als in unserer Gesellschaft: Es gibt keine Uhrzeit, kein Datum, keinen Geburtstag. Der Alltag funktioniert anders. Interessant ist jedoch das Thema Gleichberechtigung. Unter Jägern und Sammlern gibt es nämlich durchaus eine Arbeitsteilung. Männer jagen tendenziell mehr, während Frauen eher sammeln. Aber damit ist keine Wertung verbunden. Wenn eine Antilope erlegt wird, bekommt der Jäger keine besondere Anerkennung. Denn es ist klar: Alle wurden in irgendeiner Weise für den Jagderfolg gebraucht. Bei uns sind etwa Führungspositionen mit mehr Ansehen und mehr Geld verbunden. Darüber könnten wir nachdenken: ob wir unterschiedliche Aufgaben wirklich mit unterschiedlichen Wertungen verbinden müssen.