Leadership Magazin
Der Hernsteiner 1/2022 widmet sich dem Thema "Employee Experience". Wie berühren wir ein Unternehmen? Machen uns Illusionen zu besseren Menschen? Warum brauchen wir mehr Bleibe-Gespräche? Und wie machtvoll ist die Ohnmacht?
Kann sich die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung rechnen? – Ja, sagt HR-Profi Michael Pichler. Die Frage die Sie sich stellen sollten: "Kann ich es mir leisten, auf 15 % der potenziellen Arbeitskräfte zu verzichten und mit meinem Produkt 15 % der Bevölkerung nicht anzusprechen?" Sein Tipp: Betrachten Sie Inklusion als Business Case. Oft entstehen dadurch innovative Ideen, wie Arbeitsprozesse und -umgebungen gestaltet werden können.
Mindestens 15 % der österreichischen Bevölkerung, also mehr als eine Million Menschen, leben mit einer Behinderung. Sie stoßen in ihrem Alltag auf Barrieren, da sie schlecht sehen oder hören, im Rollstuhl sitzen, eine Lernschwierigkeit aufweisen, chronisch krank oder in ihrer generellen Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. 80 % der Behinderungen werden im Laufe eines Lebens erworben. "Diese Zahl sollte wachrütteln", sagt Michael Pichler. "Denn sie bedeutet, dass jeder von uns von einer Behinderung betroffen sein kann." Der ehemalige Personalchef von Unternehmen wie Obi, Baumax oder Alpine Bau leitet die österreichischen Aktivitäten von Zero Project, einer Initiative der Essl Foundation. Seine Mission: Heimische Unternehmen zu motivieren, verstärkt Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Sein wichtigster Ratschlag: "Man sollte Inklusion als einen Business Case betrachten. Am Ende des Tages muss es sich rechnen. Und es rechnet sich tatsächlich." Natürlich gebe es oft Vorbehalte. "Aber es ist viel mehr möglich, als man glaubt." Das zeigen Best- Practice-Beispiele, die jedes Jahr mit einem – von Zero Project initiierten – Sonderpreis des "Austria’s Leading Companies Award" ausgezeichnet werden. Die Preisträger reichen von Sonnentor bis Zotter, von der Bank Austria bis zu dm.
Das Gesetz macht eigentlich eine klare Vorgabe: Wenn ein Unternehmen mehr als 25 Mitarbeitende hat, muss es Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Und zwar eine Person je 25 Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer. Doch es gibt ein Schlupfloch namens Ausgleichstaxe. Rund 90 % der Unternehmen bevorzugen es, pro offener Pflichtstelle mindestens 276 Euro im Monat zu bezahlen, große Unternehmen zahlen mehr. Der überwiegende Teil der Menschen mit Behinderung bzw. mit Beeinträchtigung – die Bezeichnungen "Behinderte", "Menschen mit Handicap" oder gar "Menschen mit speziellen Bedürfnissen" werden nicht gern gehört – findet keine Beschäftigung. Stattdessen würden manche im Rahmen einer "Beschäftigungstherapie" in speziellen Werkstätten arbeiten, dafür aber nur ein Taschengeld erhalten, und das ohne die üblichen Versicherungs- oder Pensionsansprüche. "Das ist ein enormer Missstand", so Pichler. "Auch die Behindertenrechts-Konvention der UNO schreibt klar vor, solche Parallelstrukturen – etwa auch Sonderschulen – abzuschaffen."
Wie kann sich der Business Case in der Praxis rechnen? Unternehmen sollten sich zunächst eine Frage stellen, argumentiert Pichler: "Kann ich es mir leisten, auf 15 % der potenziellen Arbeitskräfte zu verzichten und mit meinem Produkt 15 % der Bevölkerung nicht anzusprechen?" Die Marienapotheke in Wien beschäftigt seit einigen Jahren einen gehörlosen Apotheker – mittlerweile lässt sich ein großer Teil der Wiener Gehörlosen-Community, immerhin rund 4.000 bis 5.000 Menschen, hier beraten. Fabasoft in Linz beschäftigt blinde Programmierer, um besser barrierefreie Software entwickeln zu können, oft eine Vorgabe gerade bei öffentlichen Aufträgen. Und auch Google lässt wissen: "Wir benötigen eine Belegschaft, die jenen Menschen entspricht, die unsere Produkte nutzen." Wer online potenzielle Arbeitnehmerinnen und -nehmer – oder auch neue Kundschaft – ansprechen möchte, sollte darauf achten, dass die Inhalte der Unternehmens-Webseite barrierefrei zugänglich sind. Die WCAG-Richtlinien helfen dabei. Außerdem kann Inklusion die Innovation im Unternehmen befeuern. "Sie zwingt uns, neue Perspektiven einzunehmen, neue Wege zu finden, wie wir Arbeitsprozesse und Arbeitsumgebungen gestalten können. Das kann uns auf geniale neue Ideen bringen", so Pichler.
Vieles scheitert an Vorurteilen, Ängsten und Mythen. Etwa rund um den vermeintlich strengen Kündigungsschutz. Tatsächlich greift dieser erst nach 4 Jahren, man hat also genug Zeit, die neuen Beschäftigten und ihre Leistung kennenzulernen. Oder bei Fragen der praktischen Umsetzung. Behinderungen reichen von leichten bis zu schwerwiegenden Einschränkungen. "Viele schrecken bereits davor zurück, wenn jemandem bloß ein oder zwei Finger fehlen", sagt Pichler. "Wir sollten unsere Toleranzgrenze zumindest ein bisschen weiter nach oben verschieben. Das würde uns als Unternehmen und als Gesellschaft massiv weiterbringen." Zumal digitale Technologien – wie das Smartphone – Menschen mit Behinderungen sehr empowern und damit mehr Teilhabe ermöglichen. "Ich kenne Personen, die vom Kopf abwärts gelähmt sind und dank moderner Hilfsmittel extrem produktive Arbeit leisten", so Pichler.
Manchmal reicht ein bisschen Kreativität: Der Maschinenbauer Trumpf bietet – im Rahmen eines geförderten Caritas-Projekts – jungen Menschen mit Lernschwäche eine Teil-Qualifizierung im Bereich Maschinenbau, die sich auf einige wenige Aspekte des Berufs konzentriert. Pichler: "Diese Leute bringen in ihren Bereichen absolut verlässliche Leistung, sind sehr loyal, haben weniger Krankenstände und bereichern darüber hinaus die Kultur des Unternehmens." Wer Menschen mit Behinderung in seinem Team hat, muss freilich gewisse Umgangsformen lernen. Nur wenige wissen etwa, wie man mit Gehörlosen kommuniziert. "Dieses praktische Wissen nimmt auch viele Ängste", ist Pichler überzeugt. "Letztlich dient es der Persönlichkeitsentwicklung, ungewohnte Dinge nicht zu verdrängen, sondern sich ihnen zu stellen."